Wie auf den vorhergehenden Seiten zu erfahren war, ist das Phänomen der Fettleibigkeit ein Nebenprodukt unserer Zivilisation. Wenn die Geschichte auch zeigt, dass bestimmte bevorzugte Bevölkerungsschichten – hohe Militärangehörige, Klerus, Adel und Bürgertum – ein paar Pfunde mehr auf die Waage brachten, muss doch betont werden, dass die Fettleibigkeit immer nur ein sehr selten auftretendes Leiden war.
Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde allerdings ein ernst zu nehmendes Problem daraus, das heute in den USA beängstigende Ausmaße angenommen hat. Nun sind dieser Entwicklung besondere gesellschaftliche und kulturelle Bedingungen vorausgegangen. Vor etwa fünfzig Jahren war die Nahrung für uns Menschen noch das, was sie seit Jahrhunderten war: „Die Quelle des Lebens“.
Jeder war davon überzeugt, dass sich die Art, auf die er sich ernährt, direkt auf seinen Gesundheitszustand auswirkt und dass die Nahrung die „beste Medizin“ darstellt, wie es bereits Hippokrates 500 v. Chr. formulierte.
Die Nahrung war damals deshalb so wichtig, weil sie rar und teuer war. Vor einigen Jahrzehnten waren die Schreckensbilder von Hungersnöten, Entbehrungen und Mangel immer noch in den Köpfen der Menschen vorhanden.
Heute ist der Einkaufskorb der Hausfrau prall gefüllt. Nahrungsmittel nehmen einen so niedrigen Stellenwert ein, dass die Verschwendung, die die Mehrheit unserer Zeitgenossen an den Tag legt, eine Beleidigung darstellt angesichts der Hungernden in der Dritten Welt. Heute verdient man sich das Brot nicht mehr im Schweiße seines Angesichts, denn die Mülltonnen sind voll davon. Früher wurden die Nahrungsmittelreste sorgfältig verwertet oder gewissenhaft gesammelt als Futter für die Tiere. Heute wandern sie direkt zu dem übrigen Müll, den unsere Konsumgesellschaft produziert!
Es muss sich irgendetwas Entscheidendes ereignet haben, weshalb sich allmählich eine derartige Respektlosigkeit gegenüber der Nahrung entwickelt hat. Dies ist nichts anderes als das vorhandene Überangebot an Nahrungsmitteln. Dieses Überangebot, das durch die einschneidenden Veränderungen in der Nahrungsmittelindustrie Ende des /.weiten Weltkrieges entstanden ist, hat zu einer Abwertung unseres „täglichen Brotes“ geführt und unsere Denkweise grundlegend verändert.
Nach 1945 musste unsere Gesellschaft mit zwei Hauptproblemen fertig werden:
– einem starken Bevölkerungsanstieg infolge des Babybooms der Nachkriegszeit und der Ankunft von Tausenden von Flüchtlingen;
– einer starken Verstädterung als Folge des Bevölkerungsanstiegs und einer zunehmenden Landflucht.
* Es musste nunmehr eine größere Menge an Nahrungsmitteln produziert werden, und das weitgehend auf eine andere Weise, denn zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit waren plötzlich die Gebiete, in denen die Nahrungsmittel angebaut wurden, nicht mehr identisch mit den Gebieten, in denen sie verzehrt wurden.
1950 wurden 80 Prozent der Nahrungsmittel, die von einer Provinzstadt mittlerer Größe verzehrt wurden, in einem Umkreis von fünfzig Kilometern produziert. Die restlichen 20 % kamen aus den umliegenden Kreisen oder aus anderen Ländern. Heute ist das Verhältnis genau umgekehrt. Als die Nahrungsmittel noch an Ort und Stelle weilerverarbeitet wurden, wurde der anfallende Abfall als Dünger wieder-verwertet.
Von dem Zeitpunkt an, wo man damit begann, Nahrungsmittel zu exportieren, konnte nichts mehr wiederverwertet werden, so dass man zu anderen Düngungsmethoden greifen musste.
Während der letzten fünfzig Jahre hat sich die Nahrungsmittelindustrie aufgrund zahlreicher, immer leistungsfähiger werdender Technologien immer weiterentwickelt. Diese einschneidenden Veränderungen hatten mehrere Auswirkungen.
1. Sie führten zu einem beträchtlichen Anstieg der Erträge:
– durch die Mechanisierung;
– durch den massiven Einsatz von Kunstdünger;
– durch den zunehmenden Einsatz von Pestiziden, Insektiziden und Fungiziden;
– durch die Einführung der Massentierhaltung.
2. Sie führten zu der Entwicklung von Konservierungstechniken:
– durch die Verbreitung des Kühl- und Tiefkühlverfahrens;
– durch die Verwendung von Zusatzstoffen und anderen chemischen Konservierungsmitteln.
Das Ergebnis all dieser Maßnahmen übertraf die Erwartungen bei weitem und führte dazu, dass ein Teil der Menschheit in einer Welt zu leben begann, in der es Nahrungsmittel im Überfluss gab.
Gleich zu Beginn dieser Veränderungen in der Nahrungsmittelindustrie wiesen Beobachter darauf hin, dass beim Durchschnittsgewicht der westlichen Bevölkerung eine starke Zunahme zu verzeichnen ist.
In den USA begann man bereits in den dreißiger Jahren, Lösungen für das Problem der Fettleibigkeit zu suchen. Die Wissenschaftler von damals – Diätetik und Ernährungslehre wurden noch nicht als medizinische Fachgebiete betrachtet – befassten sich mit dem Problem und stellten eine Hypothese auf: Da das Körpergewicht der Menschen plötzlich zu dem Zeitpunkt stark zunahm, als die westliche Welt über Nahrungsmittel im Überfluss verfügte, lag sehr wahrscheinlich ein Kausalzusammenhang vor. Und so ist der Mythos vom „Menschen als Kessel“ entstanden.